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Irren ist menschlich Begegnung in der Gerontopsychiatrie

Warum der Titel „Irren ist menschlich“? Es soll uns daran erinnern, dass unser Ort der Begegnung ein Ort ist, wo der Mensch besonders menschlich ist. Wo die Spannung auszuleben ist. 

Wie das Unmenschliche und Übermenschliche, das Banale und Einmalige, Oberfläche und Abgrund, Passivität und Aktivität, Weinen und Lachen, Leben und Tod, Schmerz und Glück, das Sich-Verstellen und Sich-Öffnen, das Sich-Verirren und Sich-Finden.

Krank, abweichend, verrückt, irre.

Wer im psychiatrischen Bereich arbeiten will, muss sich mit dem auseinandersetzen, was dort unter krank verstanden wird. Ursprünglich hat die Bezeichnung „krank“ für Menschen mit psychischen Problemen geholfen, sie besser zu behandeln. Im Laufe der Jahrzehnte wurde ein anderer Aspekt psychischer Erkrankungen erkannt: Dass ein Mensch, der krank, abweichend, verrückt ist, in Beziehungen zu anderen, zu sich selbst und seinen Gefühlen sowie zu seinem Körper verfehlt handelt. Berücksichtigt man den Aspekt der Beziehung, ist es nicht mehr möglich, nur von einzelnen Krankheitsträgern auszugehen. Krank ist zwar der betroffene Mensch, das heißt aber nicht, dass andere durch ihr Verhalten zum Dasein und So-Sein von Erkrankungen nicht beitragen. Diese Sichtweise erübrigt auch die Diskussion darüber, wer krank ist, der einzelne Mensch, die Gesellschaft, die Familie. (vgl. Dörner, Irren ist menschlich 2002)

Sich selbst wahrnehmen, sich einlassen, sich riskieren, reifen.

Im Gegensatz zu anderen pflegerischen Fachgebieten, stellen in der psychiatrischen Pflege die eigene Person und das eigene Verhalten das einzig vorhandene Instrumentarium dar. Viele Bewohner leiden unter ihrer ausgeprägten Sensibilität, haben es nicht gelernt, mit ihren Gefühlen konstruktiv umzugehen und diese für andere verständlich zu äußern. Nur wenn ich selbst orientiert bin, mich mit meinem eigenen Kontaktverhalten auseinandersetze und zu verstehen lerne, was sich zwischen mir und dem anderen abspielt, kann ich auf hilfreiche Weise mit dem Bewohner Kontakt aufnehmen, die Arbeitsbeziehung gestalten und Orientierung erleichtern. (vgl. Schädle-Deininger, 1997, praktische psychiatrische Pflege, S. 81)

Ein grundlegendes Handwerkzeug in der Begegnung mit psychisch kranken Menschen sind die Gefühle, die ich habe und die ein anderer in mir auslöst. Um sie sinnvoll einzusetzen, müssen sie mir bewusst werden. Erst wenn ich mich selber in meiner Einmaligkeit verstehe und akzeptiere, kann ich einem Bewohner sein Anderssein und seine Einzigartigkeit zugestehen. Dann werde ich mich authentisch verhalten, sodass meine geäußerten Wertvorstellungen mit meinen Handlungen übereinstimmen.

Nachdem wir unzählige einzelne Situationen reflektieren und die Ereignisse in unser zukünftiges Handeln einbeziehen, erweitern wir im Lauf der beruflichen Tätigkeit unsere Kenntnisse über uns selbst.

Der Bewohner kann vor allem dann profitieren, wenn er am eigenen Leibe spürt, wie gut Beziehungen zwischen Menschen sein können. Dafür muss viel Bewegung in einem Betreuungszeitraum gegeben sein und Begegnungen müssen auf ihre Vielfalt hin überprüft sein. Der Betroffene muss teilnehmen können, um die Erfahrungen, welche für ihn nützlich sind, machen zu können. Also darf ein Team nicht nur dazu genutzt werden, um den Bewohner vielfältiger wahrzunehmen, sondern der Bewohner kann auch das Team nutzen, um Begegnungsmöglichkeiten und Umgehensweisen besser wahrzunehmen.

Oft kann ich nicht selber bestimmen oder kontrollieren, ob und wie weit ich mich auf eine Beziehung emotional einlasse. Ich werde berührt, ergriffen, angesprochen. Ich kann, wie in jeder anderen Beziehung auch, riskieren, ob ich bewusst Zugang zu diesem Prozess habe oder ob er mir erst konflikthaft bewusst wird. Der psychisch Kranke gibt mir einen Vertrauensvorschuss und riskiert sich ebenfalls. Hinter dem Gesagten steht der Gedanke, dass wir nur über die Begegnung mit dem Anderen zu uns selbst kommen können. 

Für eine erfolgreiche und bereichernde psychiatrische Pflege ist eine fachliche Kompetenz nur ein Teil der Grundlage. Es wird in jeder Situation neu geklärt, was helfen bedeutet. Was für manche Menschen angemessen und hilfreich sein kann, kann für andere Menschen in anderen Situationen fatal sein. Es kann soziales gemeinsames Handeln und Entscheiden im Team gefragt sein – und es gibt Situationen in denen besser einer allein denkt oder entscheidet. Notwendige Grenzen und Strukturen sind zu bieten, und zugleich Freiraum und Individualität zu fördern. Wir sind immer wieder aufgefordert auch neue Wege, neue Möglichkeiten der Lösung zu finden, gesunde Anteile zu bewahren. Wichtig ist, dass Zeit vorhanden ist, Zeit für Gründlichkeit und Achtsamkeit. Das wir nicht nur bekannte Wege gehen, sondern auch Trampelpfade und Schleichwege zulassen, dass wir uns nicht nur durch Vorschriften und Regeln beherrschen lassen, sondern uns auf einen Erkenntnisvorgang einlassen, der auch originelle Lösungen hervorbringen kann. Und doch beginnt alles mit der entscheidenden Grundhaltung zum Menschsein. (vgl. Dörner, Irren ist menschlich, 2002) 

„Wer um die Würde, die unbedingte Würde jeder einzelnen Person weiß, hat auch unbedingte Ehrfurcht vor der menschlichen Person – auch vor dem kranken Menschen, auch vor dem unheilbar Kranken und auch noch vor dem unheilbar Geisteskranken. In Wahrheit gibt es nämlich gar keine „Geistes“-Krankheiten. Denn der „Geist“, die geistige Person selbst, kann überhaupt nicht krank werden, und auch noch hinter der Psychose ist sie da, wenn auch selbst dem Blick des Psychiaters kaum sichtbar.“ (Viktor E. Frankl)

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